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Dr. Shantam Eduard Fuchs

Pranayama – das Herz des Yoga

Der Atem ist unser ständiger Begleiter, solange wir diesen Körper bewohnen. Unser Leben beginnt mit dem ersten Atemzug und es endet, wenn wir das Leben aushauchen. Atmen bedeutet also Leben und zu leben bedeutet, mit der Schöpfung in Beziehung zu sein.
Betrachten wir den Atem auf der Körperebene, so ist die Atmung der Stoffwechsel-Vorgang, der den Körper mit Sauerstoff versorgt. Mit der Atemluft gelangt Sauerstoff in die Lungen, wird dort von den roten Blutkörperchen chemisch gebunden und über die Blutbahn in jede einzelne Körperzelle befördert. Dort finden die biochemischen Prozesse statt, die zu einer Oxydation führen, bei welcher der Sauerstoff zu Wasserstoff und Kohlenstoffdioxyd verbrannt wird. Letzteres wird wieder über die Blutbahn zu den Lungen transportiert und dann ausgeatmet. Dieser energetische Prozess ermöglicht unserem physischen Körper das Leben.
In der Terminologie des Yoga ist die Energie, die wir aus dem Sauerstoff gewinnen, Prana. Der Begriff "Prana" umfasst nichts weniger, als das, was die Welt zusammen hält. Auch die westliche Naturwissenschaft weiss heute, dass die Atome als Bausteine des Universums ein Mythos sind, der wissenschaftlich nicht haltbar ist. Vielmehr ist die Materie, in welcher Form auch immer sie sich uns zeigen mag, in Wirklichkeit verdichtete Energie.
Der Begriff Ayama bedeutet "Ausdehnung". Pranayama heisst also soviel wie "die Energie ausdehnen". Was ist damit gemeint? – Um das zu verstehen muss man wissen, dass im indischen Denken (und der Yoga stammt ja aus Indien) Prana die Kraft / Energie ist, mit der Gott die Welt erschaffen hat. Folglich ist Prana das, was die Welt heute mit ihrem Ursprung verbindet. Und das wird auch durch die im Wort enthaltene Silbe "Pra" zum Ausdruck gebracht. "Pra" ist das, was ganz am Anfang steht, der Ur-Anfang. Prana ist also in gewissem Sinne wie eine Nabelschnur, die uns Menschen mit dem Schöpfer verbindet.                    
Nun ist es aber das erklärte Ziel des Yoga, den Menschen mit dem Göttlichen zu vereinen. Auch das findet seinen Ausdruck im Wort, das für die Sache steht: Die Wurzel des Wortes "Yoga" lautet "Yuj" und heisst soviel wie zusammenführen, vereinen. Mit Pranayama können wir uns also in der Zeit ausdehnen. Und diese Ausdehnung kann uns bis zum Urzustand zurück führen. Dieser Urzustand wird in der Bibel als paradiesisch dargestellt; als ein Zustand, in dem der Mensch sich seiner selbst noch nicht bewusst ist und sich deshalb noch im Einklang mit der gesamten Schöpfung erlebt. Erst dadurch, dass er vom Baum der Erkenntnis isst, d.h. dass er sich seiner selbst bewusst wird, beginnt er zu unterscheiden. Damit fällt er aber aus der Einheit in die Dualität. Und nun beginnt sein Leidensweg. In der Sprache des Mythos heisst das: Er wird aus dem Paradies vertrieben. Im Yoga kann man den gleichen Sachverhalt in den Sutra nachlesen, die von den Klesha handeln (Yoga Sutra II,3 ff).
Es besteht natürlich ein enger Zusammenhang zwischen diesen Sutren, die den Kern der ganzen Psychologie des Yoga darstellen, und der Praxis des Pranayama. Ich kann an dieser Stelle nur auf den Zusammenhang hinweisen; es würde zu weit führen, näher darauf einzugehen. Aber vor diesem Hintergrund wird hoffentlich deutlich, weshalb ich Pranayama als das Herz des Yoga bezeichne.

Der Teil und das Ganze

Auch die unmittelbare Atem-Erfahrung lehrt uns, wenn wir uns die Mühe machen, bewusst hinzuschauen, dass der Mensch Teil des Ganzen ist. Wenn wir mit unseren Augen schauen, ist es naheliegend zu denken, dass du und ich voneinander und vom Rest der Schöpfung getrennt sind. Wir können klare Grenzen erkennen, die den einen von dem anderen trennen. Wenn wir den Tastsinn zu Hilfe nehmen, so werden diese Grenzen schon fragwürdiger. Wir können die Nähe eines anderen Menschen nicht nur durch unmittelbare Berührung erspüren, sondern auch seine Wärmestrahlung wahrnehmen, die über die sichtbaren Körpergrenzen hinaus reicht.
Und machen wir uns schliesslich bewusst, dass wir ununterbrochen atmen, so erkennen wir, dass sich im Atem unsere Körpergrenzen vollends auflösen. Der Atem kommt aus der Unendlichkeit und er geht in die Unendlichkeit. Der Atem macht keinen Unterschied zwischen dir und mir, ja nicht einmal zwischen Mensch und Tier und wir teilen den Atem sogar mit den Pflanzen: Es ist dieselbe Energie, die uns alle miteinander verbindet, eben Prana. Pranayama ermöglicht uns also auch etwas von diesem "Eins-Sein" unmittelbar zu erleben.
Ich hoffe, es sei klar geworden, dass Pranayama weit über das hinaus geht, was man als auf den Körper bezogene Atemübungen bezeichnen könnte. Es geht deshalb nicht darum zu diskutieren, ob man die Lungen jetzt von oben nach unten, oder von unten nach oben füllen und entleeren soll. Es geht auch nicht um die Frage, ob wir mit Pranayama mehr oder weniger Sauerstoff aufnehmen als beim gewöhnlichen Atmen, sondern es geht vielmehr darum, wie ich mit Pranayama die Grenzen meiner alltäglichen Wahrnehmung, meine sinnliche Wahrnehmung also, transzendieren und sie in feinstoffliche Bereiche hinein ausdehnen kann. Und wohl gemerkt: Das Ziel sind auch nicht so genannte übersinnliche Wahrnehmungen, sondern einzig und allein die Erfahrung der Einheit. Das heisst nicht, dass das andere in den Pranayama-Übungen nicht auch enthalten wäre, aber es ist zweitrangig im Hinblick auf das Eigentliche. Und was die übersinnlichen Erfahrungen betrifft, die im Yoga als Siddhi bekannt sind, so macht Patanjali deutlich, dass man vom Weg abkommt, wenn man sich auf sie einlässt, weil sie einem Macht versprechen.

Atem und Rhythmus
Im Atem erfahren wir Rhythmus; der Atem ist Ausdruck unseres eigenen Rhythmus. Da der Atem physiologisch die Aufgabe hat, den Organismus mit Sauerstoff zu versorgen, passt er sich dem Sauerstoffbedarf an, der natürlich an die körperliche Aktivität gebunden ist. Je mehr Leistung der Körper erbringen muss, desto höher ist der Energiebedarf und folglich auch der Sauerstoffverbrauch. Doch der Atemrhythmus verändert sich auch mit der Stimmungslage bzw. mit dem Bewusstseins-Zustand: Je nachdem, was wir fühlen oder denken ergibt sich ein anderer Rhythmus. Es ist stets unser eigener Rhythmus, doch spiegelt er den inneren Zustand. Diesen Rhythmus und somit den inneren Bewusstseinszustand zu beeinflussen, ist der Zweck des Pranayama.
Zum Üben von Pranayama ist es zunächst weder nötig noch wünschenswert, einen  bestimmten Atemrhythmus vorzugeben – es genügt, den Atem zu verlangsamen. Sie erinnern sich: Ayama heisst Ausdehnung. Und das Wort Prana bedeutet auch "Atem". So verstanden, bedeutet Pranayama also "den Atem dehnen", d.h. die einzelnen Atemzüge länger werden zu lassen. Langsames und regelmässiges Atmen macht den Geist ruhig und gesammelt. Die Konzentration, die sich daraus ergibt, ist die notwendige Voraussetzung dafür, das Bewusstsein auf das Eine, das Göttliche ausrichten zu können.
Zu diesem Zweck ist die Ujjayi-Atmung eine unschätzbare Hilfe. Mit dieser, unter persönlicher Anleitung einfach zu lernenden Atemtechnik, gelingt es praktisch mühelos, den Atem zu verlangsamen und ihn zugleich regelmässiger werden zu lassen. Die Ujjayi-Atmung ist deshalb grundlegend für die Übung des Pranayama. Aufbauend darauf, lassen sich weitere Übungen einführen, wie Ujjayi Anuloma, Ujjayi Viloma und Pratiloma Ujjayi, die je einen besonderen Zweck erfüllen und das Terrain für die spirtuellen Atemübungen vorbereiten.
Einen bestimmten Atemrhythmus vorzugeben, ist ein tief wirkender Eingriff, der erst nach langem Training und mit entsprechenden Kenntnissen angegangen werden darf. Als wichtigste Regel gilt es auf jeden Fall zu beachten, dass jede Form von Anstrengung im Pranayama zweckwidrig und auf die Dauer sogar gefährlich ist.
Dies gilt auch für die Atempausen – im Yoga Kumbhaka genannt. Richtig eingesetzt, sind sie ein wunderbares Instrument, den Geist zur Ruhe zu bringen. Doch gilt auch hier: die Praxis des Kumbhaka muss dem Training und dem momentanen Bewusstseins-Zustand der Übenden angepasst sein, damit es im richtigen Sinne wirkt. Denn obwohl die verschiedenen Techniken des Pranayama sehr wirkungsvoll sind, lässt sich mit ihnen nichts erzwingen. Vielmehr ist grösste Vorsicht geboten, gerade weil sie so stark wirken. Um es mit einem Bild auszudrücken: Je schärfer das Messer, das ich in der Hand halte, umso grösser ist sein Effekt, aber desto vorsichtiger muss ich damit umgehen.

Das Gesetz der Polarität
Der Atem ist ein rhythmisches Geschehen; pausenlos strömt der Atem ein und aus. Auf jedes Einatmen folgt das Ausatmen und jedem Ausatmen folgt das Einatmen.
So wechselt der Atem unaufhörlich von einem Pol zum anderen und offenbart dabei ein grundlegendes Naturgesetz: das Gesetz der Polarität, das Gesetz vom Werden und Vergehen. Alles, was wächst, muss auch wieder vergehen und das Vergehende schafft Raum für das Neue. Der Atem lehrt uns, dass Leben und Sterben, Geburt und Tod unabdingbar zusammen gehören. Das eine ist ohne das andere nicht möglich, so wenig wie ich nur ein- oder nur ausatmen kann. Wenn ich einatme, muss ich zwangsläufig auch ausatmen und nur wenn ich ausatme, kann ich wieder einatmen.
Einatmen bedeutet, mich einer Erfahrung zu öffnen. Deshalb halten wir den Atem an, wenn plötzlich etwas Furcht erregendes passiert und atmen nur noch ganz oberflächlich, wenn wir Angst haben. So hindert uns der zurück gehaltene Atem daran, uns ganz auf die Erfahrung einzulassen. Die Konsequenz davon ist, dass wir dann auch nicht richtig ausatmen und deshalb die Erfahrung auch nicht mehr loslassen können. Im Ausatmen liegt nämlich etwas Befreiendes.
An diesem Beispiel zeigt sich uns etwas von der tiefgreifenden psychischen und spirituellen Wirkung des Pranayama. Wenn wir lernen, bewusst und regelmässig ein- und auszuatmen, verändert sich unser Verhältnis zur Welt: Beim Einatmen lassen wir uns von der Welt, die uns umgibt, berühren. Beim Ausatmen lassen wir sie wieder los und lernen so, alles zuzulassen. In dieser Haltung drückt sich ein grundsätzliches "Ja" zur Welt aus. Ein "Ja" zum Leben und ein "Ja" zum Sterben. Beim Üben von Pranayama lernen wir, den Atem zu beobachten, also Zeuge zu sein. Die bewusste Wahrnehmung des ständigen Wechsels erzeugt mit der Zeit Gelassenheit. Wir lernen zu erkennen, dass nichts von Dauer und das einzig Beständige die Veränderung ist. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir aber auch, dass jenseits der Form, die dem ständigen Wandel unterworfen ist, noch etwas anderes da ist, das ohne jede Form und zeitlos ist. Dieses Andere ist ewig und unveränderlich, weil es formlos ist. Die Yoga Sutra, denen die Sankhya Philosophie zu Grunde liegt, nennen es Purusha. Dort hin, zu diesem unwandelbaren Seinsgrund zieht sich unser Bewusstsein beim Ausatmen zurück. Wenn wir aufmerksam sind, können wir erkennen, dass das Bewusstsein nach jedem Ausatmen in diesem zeitlosen Sein ruht. Deshalb können wir dabei lernen, nicht mit dem identifiziert zu sein, was von Augenblick zu Augenblick unser Bewusstsein erfüllt – sei das ein Bild, ein Gedanke oder ein Gefühl. Wenn dies gelingt, sind wir beim Kern der Yogapraxis angelangt, nämlich bei der Verbindung des individuellen Bewusstseins mit Purusha, dem Göttlichen.

Zum Profil von Shantam Eduard Fuchs bei thera online:
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Autor des Artikels und inhaltlich verantwortlich:
Dr. Shantam Eduard Fuchs

Datum des Eintrags: 02.03.12  

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